Heute bin auch auf taz.de auf einen Artikel gestoßen, der das Nichtwählen als Luxus der Demokratie ansieht. Da ich ja, wie ich diese Woche bereits schrieb, ein Problem mit dem Nichtwählen habe, habe ich der lieben taz. einen gepfefferten facebook-Kommentar hinterlassen. Wutbürgerin!
Liebe taz., lieber Gereon Asmuth,
ja, "[e]s geht schon lange nicht mehr um Kapitalismus versus Kommunismus, sondern nur noch um die Frage, ob die soziale Marktwirtschaft etwas sozialer oder etwas marktwirtschaftlicher sein soll."Ja, viele große Streitfragen der letzten Jahrzehnte sind inzwischen so weit geklärt, dass sich die Parteien nicht mehr mit dem "Ob", sondern mit dem "Wie" beschaffen. Die politischen Wellen, die uns entgegenschlagen, sind flacher geworden, subtiler. Mehr denn je muss der Wähler, will er sich den Anstrich eines informierten Bürgers geben, auf die Details achten. Es reicht nicht, die Slogans auf den Wahlplakaten zu studieren. Zwischen den Zeilen muss man lesen, und das ist anstrengend. Zu anstrengend für die, die keine Zeit haben oder keine Lust.
Aber: Das ist kein Problem des Einzelnen, das ist ein strukturelles Problem, das in der momentanen Situation der Bundesrepublik verankert liegt. Wir sitzen bequem in einem Land, in dem in den mehr als 20 Jahren eine stabile Demokratie herausgebildet hat. Allerdings hat eine stabile Demokratie zwei Schwächen: Sie ist festgefahren, und sie macht faul. Was wir brauchen, sind keine Diskussionen um Nichtwähler und keine Werbespots, die mir das Kreuzchen schmackhaft machen wollen.
Ich bin nach der Wiedervereinigung, kurz vor dem Vertrag von Maastricht geboren. Ich kenne kein geteiltes Deutschland, nur das, was heute von der Teilung übrig ist. Ich kenne keine Grenzen in Europa. Diesen Luxus nehmen wir, die Um-die-Wende-Kinder, als gegeben hin, denn wir kennen es ja nicht anders. Wir wurden hineingeboren in ein System, in dem wir uns frei bewegen können. Das ist toll, das ist ein Privileg, ich möchte es nicht missen. Doch viele von uns begreifen nicht, dass auch ein derart festes System aus den Angeln gehoben werden kann, und zwar völlig gewaltfrei und unblutig. Das Stichwort heißt Partizipation. Veränderung in einem stabilen Land geht von den Bürgern im Rahmen ihrer demokratischen Beteiligung aus.
Was wir brauchen, ist eine dynamische Demokratie, die sich von der repräsentativen Bürokratie entfernt, zu der sie in den letzten Jahrzehnten geworden ist. Es wird Zeit, die Demokratie neu zu formen, und zwar aus dem Volk, dem demos, heraus. In einer Demokratie, in der eine unüberwindbare Barriere herrscht zwischen denen, die wählen, und denen, die gewählt werden, ist Wählen zu abstrakt. Viele Wähler machen sich nicht die Mühe, die Details der Parteiprogramme zu reflektieren und genauer unter die Lupe zu nehmen. Wozu auch? Ist doch egal, wer die Regierung bildet, unser Staatssystem funktioniert doch. Aber - könnte es nicht auch anders funktionieren? Besser? Basisnäher? Beweglicher?
Es könnte. Aber um das zu erreichen, müssen wir wählen. Unsere Stimme hat immer ein Gewicht, und die folgende Aussage ist auch nur bedingt richtig: "Je weniger von allen anderen ihre Stimme abgeben, desto stärker zählt das eigene Votum." Ich teile mein Votum doch mit Millionen von Bundesbürgern. Wenn mehr Leute, die meine Überzeugungen und Ideale teilen, ihr Kreuzchen an der gleichen Stelle machen, zählen unsere Stimmen mehr. In der Demokratie, wie wir sie heute als Institution leben, wähle ich nicht als Individuum, sondern als Teil einer Gruppe mit gemeinsamen Werten und Vorstellungen.Doch diese institutionalisierte Demokratie muss sich verändern, muss sich Bewegung, denn Stillstand ist auf Dauer schädlich. Damit sie sich bewegt, müssen wir wählen - auch ohne Werbespots, die uns dazu auffordern.
Vielen Dank.
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