Dienstag, 18. Februar 2014

Gebt ihr noch 'ne Chance!

Oder: Lena Gorelik - Die Listensammlerin

In der Mathevorlesung.
Prof zum Studenten: "Wie viel ist 2+2?"
Student: "Äh... 5?"
Die Menge im Hintergrund: "Gib ihm noch 'ne Chance! Gib ihm noch 'ne Chance!"
Student: "Äh... 3?"
Die Menge im Hintergrund: "Gib ihm noch 'ne Chance! Gib ihm noch 'ne Chance!"
Student: "Jetzt hab ich's! 4!"
Die Menge im Hintergrund: "Gib ihm noch 'ne Chance! Gib ihm noch 'ne Chance!"
Zugegeben, das ist kein besonders guter Witz. Später gibt es noch einen besseren, versprochen. Der Mathestudent in diesem Witz hat eine zweite (und auch eine dritte) Chance wirklich verdient. Lena Gorelik auch.

Vor drei Wochen habe ich mir ein Buch bestellt, was für jemanden, der viel und gerne liest, nicht weiter verwunderlich ist. Etwas bizarr war nur meine Motivation, genau dieses Buch zu kaufen: Die Autorin und ich haben den gleichen Vornamen. Von der Autorin, Lena Gorelik, hatte ich an dem Tag zum ersten Mal gehört, obwohl sie schon mehrere Romane veröffentlich hat und ich eigentlich versuche, up to date zu sein, was die deutsche Literatur angeht. Ihr neuester Roman, Die Listensammlerin, hat auf amazon zwar nur zwei Kundenrezensionen, die dafür aber beide das Buch recht ausführlich loben. Auch andere Rezensionen im Internet waren zum größten Teil positiv. Kann also nur gut werden, oder?

Wahrscheinlich waren die Erwartungen an meine Namensvetterin zu hoch. Da ich selber auch schreibe, aber weit davon entfernt bin, einen Roman zu veröffentlichen, war ich besonders neugierig, was eine andere Lena da wohl zu Papier gebracht hat. Obwohl ich die Autorin gar nicht kannte und noch nichts von ihr gelesen hatte, hatte ich allein aufgrund der Namensgleichheit zu ihr eine ganz andere Beziehung als zu anderen mir unbekannten Autoren. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass sie ihre Sache gut macht.


Auch zwei Wochen nach der Lektüre des Romans kann ich nicht sagen, ob sie ihre Sache wirklich gut gemacht hat. Ich habe viel über den Roman nachgedacht, über den Inhalt, die Figuren, die Sprache. Habe versucht, alles in einen Zusammenhang zu bringen, habe sogar einen sehr assoziativen Text über den Roman geschrieben, um ihn zu verarbeiten. Und trotzdem fühle ich mich nicht in der Lage, über die Qualität zu urteilen.

Hier ist nicht der Ort für eine ausführliche Zusammenfassung der Handlung. Der Roman erzählt auf zwei Ebenen eine Familiengeschichte. Sofia, mit beiden Beinen im Hier und Jetzt, schreibt seit ihrer Kindheit Listen über alle erdenklichen Themen. Als sie in der Wohnung ihrer Oma auf handgeschriebene Listen in kyrillischer Schrift stößt, erfährt sie von ihrem Onkel Grischa. Um ihn, einen Dissidenten in der Sowjetunion, dreht sich die zweite Geschichte.

Die Idee, die Familiengeschichte aus zwei Perspektiven zu erzählen, ist sicherlich nicht neu, bietet sich hier aber an, um mit Gegensätzen in Zeit und Raum zu spielen. Sowjetunion gegen Deutschland, Kalter Krieg gegen neues Millenium. Lena* nutzt den Spielraum, ohne allzu sehr in Sowjetklischees zu verfallen.Doch trotz detailreicher, bildhafter Beschreibungen fehlt für mich insbesondere im "russischen" Teil des Romans etwas. Die dargestellten Personen und Orte bleiben seltsam leer, es gibt keine Möglichkeit, mit der Welt warm zu werden, in sie einzutauchen. Obwohl die Passagen über Grischa die inhaltlich interessanteren sind, waren sie weniger angenehm zu lesen. Als es zum Ende hin spannend wurde, hat mein Lesetempo immer weiter abgenommen, weil Bilder im Kopf fehlten, die ich erzwingen wollte.

Der in  Deutschland spielende Teil, naturgemäß näher an meiner Lebenswelt und daher einfacher vorzustellen, konnte mich auch nicht völlig überzeugen. Zwei Dinge bilden den Rahmen, Sofias Listen und die anstehende Herz-OP ihrer kleinen Tochter. Das OP-Motiv hat mich besonders beschäftigt, aber richtig deuten - wenn es hier in diesem Sinne etwas zu deuten gibt, das ist ja immer die Frage bei Literatur - kann ich es nicht. Ich sehe die Figuren diesmal vor mir, kann sie in einen sinnvollen Raum einordnen, habe ein klareres Bild, und doch ist wenig, was zurückkommt. Ich mag es, wenn ein Text die Fragen aufgreift, die ich beim Lesen stelle. Wenn ein Dialog entsteht. Lena und Lena reden aneinander vorbei.

Das Gefühl, da müsse noch etwas kommen, das könne doch nicht alles gewesen sein, hält bis zum Ende des Romans an. Ich habe vergeblich gehofft, in dem Roman einen versteckten Schatz zu finden, der das Buch für mich zu etwas Besonderem werden lässt. Eine Figur, ein Motiv, auch nur ein einzelner Satz, den Lena an mich schickt. Das nur, weil wir uns einen Vornamen teilen. Von Lena Meyer-Landrut habe ich keine Botschaft erwartet, und auch in Lena Dunhams Serie Girls habe ich nicht nach einem Zeichen gesucht.

Lena Gorelik aber macht das, was ich auch gerne machen würde, Texte schreiben, Bücher veröffentlichen. Deswegen waren die Erwartungen an den Roman zu hoch, wahrscheinlich unerreichbar. Ich wollte ein Meisterwerk, eine atemberaubende Geschichte. Was ich bekam, war ein Roman, der mir sicherlich gefallen hätte, hätte eine Julia ihn geschrieben oder eine Kathi. Aber - Lena hat eine zweite Chance verdient, vielleicht auch eine dritte. Sie versteht es, zu schreiben, mit Worten umzugehen. Die Listensammlerin ist keinesfalls ein schlechtes Buch, sondern eins, das ich unter einem schlechten Vorzeichen gelesen habe. Ich geb ihr noch 'ne Chance.

Auf die zweiten, dritten, vierten Chancen!

* Ich mag es nicht, wenn Leute weibliche Denker als Vorname Nachname oder gar nur Vorname bezeichnen. Aber weil Lena eben Lena heißt, nenne ich sie hier so.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen