Seit einiger
Zeit gehöre ich zu einer Gruppe, die sich einmal wöchentlich zum kreativen Schreiben
trifft. Diesen Text habe ich heute im Rahmen eines Schreibauftrags verfasst,
bei dem ich die Dornröschen-Geschichte in den Pariser Mai '68 verfrachten
musste. Dafür, dass er in nur 30 Minuten entstanden ist, finde ich ihn ziemlich
gut.
Il était une fois ein Paris, wie es nicht im
Reiseführer steht. Ein Paris, in dem die Studenten alles satt hatten. Ein
Paris, in dem die Jugend an den Lippen Jean-Paul Sartres hing, der ihnen
Geschichten erzählte vom Sein und vom Nichts.
Rose verstand nicht alles, was er sagte, doch auch sie
hatte der schielende Philosoph in seinen Bann gezogen. Rose war klug und
hübsch, hatte das Lycée als Jahrgangsbeste abgeschlossen und studierte im
ersten Semester französische Literatur. Sie war eins von den Mädchen, die alles
in die Wiege gelegt bekamen. Wann immer sie an einer Kundgebung teilnahm,
vergaßen einige ihrer Mitstudenten, wofür sie alle kämpfen, und wendeten ihre
Blicke Rose zu. Rose, die so hübsch war in ihren fast zu kurzen Röcken, aber
doch so unnahbar.
Am Tag, an dem sie die Uni besetzten, war sie an
vorderster Front. Was als kleine Bewegung gestartet war, hatte die ganze Stadt
erfasst. Das altehrwürdige Hauptgebäude der Universität war noch nie so voll
gewesen, Menschenmassen drängten sich in den Hörsälen und auf den Fluren.
Rose war nicht die erste, die an diesem Tag umkippte.
Die Luft war schwanger mit Ideen, für Sauerstoff blieb kaum Platz. Sie wollte
gerade das Gebäude verlassen, als ihr Kreislauf nachgab und sie auf dem Boden
zusammensank. Die Jungs, die ihr sonst hinterherstarrten, trugen sie nach
draußen. „Rose? Rose, alles klar?“, fragte einer von ihnen. Rose antwortete
nicht. Sie lag einfach da, auf dem Asphalt vor der Universität. War sie
bewusstlos? Eingeschlafen? Sie atmete ruhig, friedlich. Die unnahbare Rose sah
zerbrechlich aus wie eine Porzellanpuppe.
Jacques beugte sich über sie, gab ihr einen zarten
Kuss auf die Wange. Rose öffnete die Augen und sah sich um.
–
Jacques
hielt sich die Wange, die von der Ohrfeige schmerzte. Er hörte Rose flüstern:
„Jetzt weiß ich, was Simone gemeint hat, als sie sagte ‚Man wird nicht als Frau
geboren, man wird dazu gemacht‘.“
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