Montag, 30. September 2013

Wiederentdeckt

Oder: Der Fliegenfänger

Friedhof der vergessenen Bücher, so habe ich das Regal in unserem Hotel in Aqaba getauft. Die meisten Bücher, die Hotelgäste in den letzten Jahren nicht mit nach Hause genommen haben, sind für mich als Büchersnob völlig uninteressant. Mein Blick fiel sofort auf Willy Russells The Wrong Boy, in der deutschen Übersetzung Der Fliegenfänger.

Die deutsche Version habe ich vor einigen Jahren gelesen, ich weiß nicht mehr, ob es eine Empfehlung war oder ein Zufallsfund in der Buchhandlung. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie sehr ich dieses Buch geliebt habe. Ein Junge, dessen bizarre Lebensgeschichte geprägt ist von ständigen Missverständnissen, schreibt Briefe an den großartigen Morrissey und erzählt seinen tragikomischen Werdegang.

Schon öfter habe ich vermeintliche Lieblingsbücher nach Jahren wieder zur Hand genommen, von vorne bis hinten gelesen und dann festgestellt, dass sie nicht mehr das für mich sind, was sie mal waren. Ich bin aus einigen Büchern rausgewachsen. Sie haben für mich keine tiefere Bedeutung mehr, auch wenn ich weiterhin sagen würde, dass sie gute Bücher sind. Mit brennender Geduld zum Beispiel, ein Buch, das ich mit vierzehn, fünfzehn geliebt habe. Als ich es noch einmal gelesen habe, hat sich in mir nichts mehr geregt.

Ein bisschen nervös war ich schon, als ich den Fliegenfänger zum zweiten Mal angefangen habe. Was, wenn das nicht der Roman ist, den ich in Erinnerung habe? Wenn er mich kalt lässt, mich nicht anspricht, nicht interessiert? Die Sorgen waren unbegründet. Nach wenigen Seiten war ich wieder gefangen im Universum des falschen Jungen, wie sich der Protagonist Raymond Marks selbst nennt. Raymond ist ein Charakter, den man einfach lieben muss. Ein unglaublich unbeholfener sozialer Außenseiter, dem im Leben bisher wenig Gutes passiert ist und der sich nun, mit 19, auf den Weg zu seinem ersten Job macht, um endlich der normale Junge zu werden, den seine Mutter sich wünscht. Raymond ist - wie ich - ein großer Morrissey-Fan. In vielen Briefen vertraut er sich dem Sänger an, erzählt seine Geschichte des Scheiterns von vorne bis hinten. Die Briefe sind mal komisch, mal traurig, aber immer rührend. 

Die Figuren, die Russell hier entwirft, sind so einzigartig wie zeitlos. Da ist Raymond, der falsche Junge, der seine alleinerziehende Mutter unglücklich macht. Da ist seine Großmutter, die ihre Jugend lieber mit Diskussionen über Simone de Beauvoir verbracht hätte, stattdessen aber den Falschen geheiratet hat. Raymonds schrecklicher Onkel nebst Familie, die den Dursleys auch Harry Potter in nichts nachsteht. Raymonds schräge Freunde Twinky und Norman, und das Mädchen mit den kastanienbraunen Augen.

Das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite noch besser, als ich es in Erinnerung hatte. Ich musste lachen, ich musste weinen, ich musste meine Eindrücke teilen. Mussten den syrischen Marxisten bei seiner Foucault-Lektüre unterbrechen, um ihm aus dem Buch vorzulesen. Einige Passagen konnte ich nicht für mich behalten, so wunderbar geschrieben waren sie. Der Marxist hat das Buch an sich genommen und mir versprochen, es bald zu lesen. Ich bin mir sicher, es wird ihm gefallen.

Auf das Leseerlebnis!

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