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Dienstag, 23. September 2014

Herausforderung angenommen


Oder: Zehn Bücher, die im Gedächtnis geblieben sind

Eine Freundin hat mich bei facebook für eine Challenge nominiert. Nicht die mit dem Eiswasser, die ist mir zum Glück erspart geblieben. Ich zitiere

"Liste zehn Bücher in deiner Chronik auf, die dir im Kopf haften geblieben sind. Benötige nicht mehr als ein paar Minuten und denk nicht so lange darüber nach. Sie müssen keine perfekten Bücher sein und auch keine Werke der Weltliteratur, sie sollen dich nur innerlich berührt haben. Sobald du dies getan hast, nominiere zehn Freunde so wie du von einem nominiert wurdest, so dass sie deine Liste sehen können."

Ich veröffentliche das Ganze hier, nicht auf facebook, weil ich gerne zu jedem Buch ein paar Sätze sagen möchte. Ich werde mich auf Belletristik beschränken. Es gibt viele Sach und Fachbücher, die mich begleitet, beeindruckt und geprägt haben, aber es wäre nicht fair, sie mit Romanen und Erzählungen in einen Topf zu werfen.

Hier also zehn Bücher, die mich im Laufe meines Lebens berührt haben, in einigermaßen chronologischer Reihenfolge.

Hanne Schüler Weißnäschen und ihre Freunde
Ein Kinderbuch über anthropomorphe Katzen und ihre alltäglichen Abenteuer, ein Kindheitsliebling. Mein erstes Exemplar ist abhanden gekommen, weshalb ich mir vor ein, zwei Jahren ein neues bestellt habe.

Waltraud Lewin Luise, Hinterhof Nord
Als Kind habe ich fast nur Sachbücher gelesen. Da gibt es auch einige, die mich geprägt haben. Romane habe ich nur wenige gelesen, diese dafür oft mehrfach. So auch dieses Jugendbuch, erster Teil einer dreiteiligen Familiensaga.

Juli Zeh Spieltrieb
Zu diesem wunderbaren Roman habe ich mich an anderer Stelle schon umfassend geäußert.

Franz Kafka Erzählungen
Kafkas Erzählungen, allen voran die berühmte Verwandlung, waren anders als alles, was ich bisher gelesen hatte. Sie waren Zugang zu einer anderen, merkwürdigen, phantastischen Welt.

Judith Hermann Sommerhaus, später
Judith Hermann ist eins meiner literarischen Vorbilder. Zu oft werden meine Schreibversuche zu schlechten Kopien ihrer Kurzgeschichten. Sie versteht es, mit wenigen Worten dichte Atmosphären zu kreieren.

Haruki Murakami Kafka* am Strand
Apropos merkwürdige, phantastische Welt in einer solchen spielen sich auch Murakamis Werke ab. Ich schätze viele seiner Romane, aber dieses Buch hat mich von allen am meisten berührt. Sprechende Katzen sind wiederkehrender Bestandteil meiner Lieblingsbücher.

Chuck Palahniuk Invisible Monsters
Manche wundert es, dass ein so harmoniebedürftiger Mensch wie ich Gefallen findet an den absurden Gewaltszenarien in Palahniuks Romanen. Doch Invisible Monsters ist mehr. Palahniuk arbeitet hier wunderbare Charaktere und Handlungen aus.

Willy Russell The Wrong Boy
Ein Buch, das die Bezeichnung "tragikomisch" wahrlich verdient. Irgendwo zwischen lautem Lachen und leisen Tränen. Mehr zu diesem Dauerliebling hier.

Roberto Bolaño 2666
Diese 900 Seiten haben mich im Sommer 2012 begleitet, eine Empfehlung des syrischen Marxisten. Es war ein hartes Stück Arbeit, eine tour de force, hat sich aber gelohnt. Ein Meisterwerk.

Chimamanda Ngozie Adichie Americanah
Ganz neu auf der Liste ist dieser Roman einer nigerianischamerikanischen Schriftstellerin. Er ist nicht nur gut geschrieben, sondern hat mir auch geholfen, Aspekte der amerikanischen Gesellschaft besser zu verstehen.  

Drei großartige Autoren, die es knapp nicht auf diese Liste geschafft haben, aber dennoch erwähnt gehören, sind Christine Nöstlinger, Jeffrey Eugenides und John Irving. Sie alle haben jeweils mehrere Romane und Geschichten geschrieben, die mir im Gedächtnis geblieben sind aber auf dieser Liste ist nur Platz für zehn. Wahrscheinlich werde ich mich morgen ärgern, dass ich keins ihrer Bücher in meine Top Ten aufgenommen habe.

Auf die Herausforderung!

* = Namensähnlichkeiten zum weiter oben erwähnten Franz Kafka sind selbstverständlich rein zufällig.

Dienstag, 18. Februar 2014

Gebt ihr noch 'ne Chance!

Oder: Lena Gorelik - Die Listensammlerin

In der Mathevorlesung.
Prof zum Studenten: "Wie viel ist 2+2?"
Student: "Äh... 5?"
Die Menge im Hintergrund: "Gib ihm noch 'ne Chance! Gib ihm noch 'ne Chance!"
Student: "Äh... 3?"
Die Menge im Hintergrund: "Gib ihm noch 'ne Chance! Gib ihm noch 'ne Chance!"
Student: "Jetzt hab ich's! 4!"
Die Menge im Hintergrund: "Gib ihm noch 'ne Chance! Gib ihm noch 'ne Chance!"
Zugegeben, das ist kein besonders guter Witz. Später gibt es noch einen besseren, versprochen. Der Mathestudent in diesem Witz hat eine zweite (und auch eine dritte) Chance wirklich verdient. Lena Gorelik auch.

Vor drei Wochen habe ich mir ein Buch bestellt, was für jemanden, der viel und gerne liest, nicht weiter verwunderlich ist. Etwas bizarr war nur meine Motivation, genau dieses Buch zu kaufen: Die Autorin und ich haben den gleichen Vornamen. Von der Autorin, Lena Gorelik, hatte ich an dem Tag zum ersten Mal gehört, obwohl sie schon mehrere Romane veröffentlich hat und ich eigentlich versuche, up to date zu sein, was die deutsche Literatur angeht. Ihr neuester Roman, Die Listensammlerin, hat auf amazon zwar nur zwei Kundenrezensionen, die dafür aber beide das Buch recht ausführlich loben. Auch andere Rezensionen im Internet waren zum größten Teil positiv. Kann also nur gut werden, oder?

Wahrscheinlich waren die Erwartungen an meine Namensvetterin zu hoch. Da ich selber auch schreibe, aber weit davon entfernt bin, einen Roman zu veröffentlichen, war ich besonders neugierig, was eine andere Lena da wohl zu Papier gebracht hat. Obwohl ich die Autorin gar nicht kannte und noch nichts von ihr gelesen hatte, hatte ich allein aufgrund der Namensgleichheit zu ihr eine ganz andere Beziehung als zu anderen mir unbekannten Autoren. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass sie ihre Sache gut macht.


Auch zwei Wochen nach der Lektüre des Romans kann ich nicht sagen, ob sie ihre Sache wirklich gut gemacht hat. Ich habe viel über den Roman nachgedacht, über den Inhalt, die Figuren, die Sprache. Habe versucht, alles in einen Zusammenhang zu bringen, habe sogar einen sehr assoziativen Text über den Roman geschrieben, um ihn zu verarbeiten. Und trotzdem fühle ich mich nicht in der Lage, über die Qualität zu urteilen.

Hier ist nicht der Ort für eine ausführliche Zusammenfassung der Handlung. Der Roman erzählt auf zwei Ebenen eine Familiengeschichte. Sofia, mit beiden Beinen im Hier und Jetzt, schreibt seit ihrer Kindheit Listen über alle erdenklichen Themen. Als sie in der Wohnung ihrer Oma auf handgeschriebene Listen in kyrillischer Schrift stößt, erfährt sie von ihrem Onkel Grischa. Um ihn, einen Dissidenten in der Sowjetunion, dreht sich die zweite Geschichte.

Die Idee, die Familiengeschichte aus zwei Perspektiven zu erzählen, ist sicherlich nicht neu, bietet sich hier aber an, um mit Gegensätzen in Zeit und Raum zu spielen. Sowjetunion gegen Deutschland, Kalter Krieg gegen neues Millenium. Lena* nutzt den Spielraum, ohne allzu sehr in Sowjetklischees zu verfallen.Doch trotz detailreicher, bildhafter Beschreibungen fehlt für mich insbesondere im "russischen" Teil des Romans etwas. Die dargestellten Personen und Orte bleiben seltsam leer, es gibt keine Möglichkeit, mit der Welt warm zu werden, in sie einzutauchen. Obwohl die Passagen über Grischa die inhaltlich interessanteren sind, waren sie weniger angenehm zu lesen. Als es zum Ende hin spannend wurde, hat mein Lesetempo immer weiter abgenommen, weil Bilder im Kopf fehlten, die ich erzwingen wollte.

Der in  Deutschland spielende Teil, naturgemäß näher an meiner Lebenswelt und daher einfacher vorzustellen, konnte mich auch nicht völlig überzeugen. Zwei Dinge bilden den Rahmen, Sofias Listen und die anstehende Herz-OP ihrer kleinen Tochter. Das OP-Motiv hat mich besonders beschäftigt, aber richtig deuten - wenn es hier in diesem Sinne etwas zu deuten gibt, das ist ja immer die Frage bei Literatur - kann ich es nicht. Ich sehe die Figuren diesmal vor mir, kann sie in einen sinnvollen Raum einordnen, habe ein klareres Bild, und doch ist wenig, was zurückkommt. Ich mag es, wenn ein Text die Fragen aufgreift, die ich beim Lesen stelle. Wenn ein Dialog entsteht. Lena und Lena reden aneinander vorbei.

Das Gefühl, da müsse noch etwas kommen, das könne doch nicht alles gewesen sein, hält bis zum Ende des Romans an. Ich habe vergeblich gehofft, in dem Roman einen versteckten Schatz zu finden, der das Buch für mich zu etwas Besonderem werden lässt. Eine Figur, ein Motiv, auch nur ein einzelner Satz, den Lena an mich schickt. Das nur, weil wir uns einen Vornamen teilen. Von Lena Meyer-Landrut habe ich keine Botschaft erwartet, und auch in Lena Dunhams Serie Girls habe ich nicht nach einem Zeichen gesucht.

Lena Gorelik aber macht das, was ich auch gerne machen würde, Texte schreiben, Bücher veröffentlichen. Deswegen waren die Erwartungen an den Roman zu hoch, wahrscheinlich unerreichbar. Ich wollte ein Meisterwerk, eine atemberaubende Geschichte. Was ich bekam, war ein Roman, der mir sicherlich gefallen hätte, hätte eine Julia ihn geschrieben oder eine Kathi. Aber - Lena hat eine zweite Chance verdient, vielleicht auch eine dritte. Sie versteht es, zu schreiben, mit Worten umzugehen. Die Listensammlerin ist keinesfalls ein schlechtes Buch, sondern eins, das ich unter einem schlechten Vorzeichen gelesen habe. Ich geb ihr noch 'ne Chance.

Auf die zweiten, dritten, vierten Chancen!

* Ich mag es nicht, wenn Leute weibliche Denker als Vorname Nachname oder gar nur Vorname bezeichnen. Aber weil Lena eben Lena heißt, nenne ich sie hier so.

Montag, 30. September 2013

Wiederentdeckt

Oder: Der Fliegenfänger

Friedhof der vergessenen Bücher, so habe ich das Regal in unserem Hotel in Aqaba getauft. Die meisten Bücher, die Hotelgäste in den letzten Jahren nicht mit nach Hause genommen haben, sind für mich als Büchersnob völlig uninteressant. Mein Blick fiel sofort auf Willy Russells The Wrong Boy, in der deutschen Übersetzung Der Fliegenfänger.

Die deutsche Version habe ich vor einigen Jahren gelesen, ich weiß nicht mehr, ob es eine Empfehlung war oder ein Zufallsfund in der Buchhandlung. Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie sehr ich dieses Buch geliebt habe. Ein Junge, dessen bizarre Lebensgeschichte geprägt ist von ständigen Missverständnissen, schreibt Briefe an den großartigen Morrissey und erzählt seinen tragikomischen Werdegang.

Schon öfter habe ich vermeintliche Lieblingsbücher nach Jahren wieder zur Hand genommen, von vorne bis hinten gelesen und dann festgestellt, dass sie nicht mehr das für mich sind, was sie mal waren. Ich bin aus einigen Büchern rausgewachsen. Sie haben für mich keine tiefere Bedeutung mehr, auch wenn ich weiterhin sagen würde, dass sie gute Bücher sind. Mit brennender Geduld zum Beispiel, ein Buch, das ich mit vierzehn, fünfzehn geliebt habe. Als ich es noch einmal gelesen habe, hat sich in mir nichts mehr geregt.

Ein bisschen nervös war ich schon, als ich den Fliegenfänger zum zweiten Mal angefangen habe. Was, wenn das nicht der Roman ist, den ich in Erinnerung habe? Wenn er mich kalt lässt, mich nicht anspricht, nicht interessiert? Die Sorgen waren unbegründet. Nach wenigen Seiten war ich wieder gefangen im Universum des falschen Jungen, wie sich der Protagonist Raymond Marks selbst nennt. Raymond ist ein Charakter, den man einfach lieben muss. Ein unglaublich unbeholfener sozialer Außenseiter, dem im Leben bisher wenig Gutes passiert ist und der sich nun, mit 19, auf den Weg zu seinem ersten Job macht, um endlich der normale Junge zu werden, den seine Mutter sich wünscht. Raymond ist - wie ich - ein großer Morrissey-Fan. In vielen Briefen vertraut er sich dem Sänger an, erzählt seine Geschichte des Scheiterns von vorne bis hinten. Die Briefe sind mal komisch, mal traurig, aber immer rührend. 

Die Figuren, die Russell hier entwirft, sind so einzigartig wie zeitlos. Da ist Raymond, der falsche Junge, der seine alleinerziehende Mutter unglücklich macht. Da ist seine Großmutter, die ihre Jugend lieber mit Diskussionen über Simone de Beauvoir verbracht hätte, stattdessen aber den Falschen geheiratet hat. Raymonds schrecklicher Onkel nebst Familie, die den Dursleys auch Harry Potter in nichts nachsteht. Raymonds schräge Freunde Twinky und Norman, und das Mädchen mit den kastanienbraunen Augen.

Das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite noch besser, als ich es in Erinnerung hatte. Ich musste lachen, ich musste weinen, ich musste meine Eindrücke teilen. Mussten den syrischen Marxisten bei seiner Foucault-Lektüre unterbrechen, um ihm aus dem Buch vorzulesen. Einige Passagen konnte ich nicht für mich behalten, so wunderbar geschrieben waren sie. Der Marxist hat das Buch an sich genommen und mir versprochen, es bald zu lesen. Ich bin mir sicher, es wird ihm gefallen.

Auf das Leseerlebnis!