Mittwoch, 14. Mai 2014

Like a Phoenix

Oder: Von Conchita, Europa und der Genderbinarität

Erinnert sich noch jemand an Wild Girls, diesen unsäglichen neokolonialistischen Mist, der letztes Jahr in der Flimmerkiste lief? Eine Mischung aus Neugier und Langeweile hat mich dazu verleitet, auch mal reinzuschauen. Tussi, Tussi, Tussi mit Bart - äh, Moment. Eine der jungen langbeinigen Schönheiten überrascht mit erstaunlich viel Gesichtsbehaarung. Schnell nachschauen,wer das denn ist. Conchita Wurst, Kunstfigur des Österreichers Tom Neuwirth. Ich habe Frollein Wurst dann irgendwo im Hinterkopf abgelegt und bin zur Tagesordnung übergegangen.

Am Samstag hat Conchita nun für Österreich den Eurovision Song Contest gewonnen. Und alle so yeah. Der ESC wird mehr denn je zum Politikum erhoben, die Abstimmungsergebnisse spiegeln angeblich das wider, was in den Köpfen Europas vorgeht. So zumindest wurde das schlechte Abschneiden Deutschlands letztes Jahr erklärt - die paar Punkte, die Cascada bekommen hat, galten unserer Kanzlerin. Dieses Jahr sind die Medien ganz aus dem Häuschen, weil erstmals eine Person außerhalb der Genderbinarität gewonnen hat, also jemand, der sich nicht eindeutig einem der beiden sozialen Geschlechter männlich oder weiblich zuordnet.
 
Das ist großartig. Ich freue mich für Conchita. Conchita hat gut gesungen und verdient gewonnen. Ihr Sieg ist ein Sieg für alle, die Gender als Kontinuum sehen und nicht als Dichotomie. Ein Sieg für alle, die sich selbst nicht in den Kategorien weiblich und männlich wiederfinden. Von mir aus auch ein Stinkefinger für Putin und seine Anti-Homosexuellen-Politik. Was Conchitas Sieg nicht ist: Ein Zeichen von Toleranz und Respekt im ach-so-vereinten Europa. Ein völlig intransparentes Abstimmungsergebnis bei einem europaweiten Gesangswettbewerb sagt wenig bis nichts über die tatsächliche Stimmungslage aus. Wie viele Leute haben für Österreich gestimmt, nicht für Conchita? Wie viele haben für sie gestimmt, weil sie gut gesungen hat? Wie viele, weil sie meinen, damit die LGBTQIA-Community zu unterstützen? Und wie viele haben es einfach for the lulz getan, wie seinerzeit bei Lordi (Nicht zu verwechseln mit Lorde!)?

Conchitas Sieg ist ein Schritt in die richtige Richtung. Tom hat Conchita auf diese Bühne geschickt und damit Mut bewiesen. Conchita "sang for everyone who has ever been made to feel ashamed or afraid for being different", schreibt der Guardian in einem sehr gelungenen Artikel.

Aber: Auf der einen Seite steht die Drag-Queen im Glitzerkleid, auf der anderen Seite stehen Menschen auf der ganzen Welt, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Gender-Identität körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt sind. Ein Bekannter von mir schrieb, er sei "glücklicherweise erst zweimal" körperlichen Angriffen aufgrund seiner Sexualität ausgesetzt gewesen. Wie kann es denn sein, dass man Gewalterfahrungen mit Wörtern wie "glücklicherweise" in Verbindung bringen muss? Irgendwas läuft doch gehörig falsch, wenn man(n?) sich freuen muss, nicht noch mehr körperliche Angriffe erlebt zu haben.

Conchita steht im Fernsehen auf der Bühne, vom Zuschauer getrennt durch tausende Kilometer und die schützende Scheibe des Bildschirms. Dieser Sicherheitsabstand macht es einfach, sie zu bejubeln und sich gleichzeitig für die eigene Toleranz auf die Schulter zu klopfen. Doch leider reagieren viele der Leute, die jetzt das tolerante Europa feiern, ganz anders auf LGBTQIA-Menschen in ihrer eigenen Umgebung. Plötzlich sind Berührungsängste da. Manche empfinden Ekel, viele sind einfach unsicher, wissen nicht, wie sie mit dem Gegenüber umgehen sollen - ganz nach dem Motto "Ich will ja nichts falsch machen!".

Ich wünsche mir, dass Conchitas ESC-Sieg mehr bewirkt als einen kurzen Hype. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen bereit sind, gender-fluide Identitäten auch in ihrem direkten Umfeld anzunehmen. Und ich wünsche mir, dass all diejenigen, die im Internet Kommentare wie "Tötet es!" von sich gegeben haben, morgen früh mit nackten Füßen auf ein Lego treten.

Auf die Genderfluidität!

P.S.: Fast alles, was ich geschrieben habe, lässt sich auch auf andere Gruppen übertragen, die bestimmte Sozialprivilegien nicht genießen. Auch hier haben wir noch einen weiten Weg vor uns.

P.P.S.: Was hat sich der Schöpfer von Frollein Wurst eigentlich bei der Namenswahl gedacht?!

2 Kommentare:

  1. Ein sehr schöner Beitrag. Ich habe mir zu dem Thema auch schon den einen oder anderen Gedanken gemacht, und bin dabei zu meinem eigenen Erstaunen drüber gestolpert, dass irgendwo tief in mir auf einer ganz instinktiven halbunterbewussten Ebene auch noch ein intoleranter Spießer steckt. Unter Umständen ist das ein Response auf irgendeinen Art-Erhaltungs-Instinkt (Mit Bindestrichen für bessere Lesbarkeit dieses Worts), der mich mit Ablehnung auf Wesen reagieren lässt, die nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen sind. Ist natürlich Quark und auf einer bewussten intellektuellen Ebene muß ich wirklich über mich selber grunzen, wenn mir so etwas klar wird. Wenn ich mein Hirn angeschaltet habe möchte ich nämlich lieber tolerant sein. Einsicht, Besserung, wissenschon ...

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  2. Ich fürchte, viele Menschen haben für Conchita angerufen, um so Schuldgefühle zu ersticken, die sie haben, weil sie denken, nicht wirklich tolerant zu sein. Wenn die Toleranz im echten Leben scheitert (ob aus Gewohnheit oder Gruppenzwang), dann muss das eben im Leben 2.0, den Medien, nachgeholt werden. Es ist schon erstaunlich, wie tolerant und aufgeschlossen Medien und wie verstockt Menschen wirklich sind.

    P.S.: Ich denke, "Wurst" wurde mit Absicht gewählt - ein gewisses Bedürfnis nach Aufmerksamkeit hat sie offensichtlich.

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